Autonomes Fahren und wandernde Krebszellen

Gespräch mit Prof. Cristóbal Curio, Leiter des KI-X-Forschungszentrums der Hochschule Reutlingen.

Maschinen sind unschlagbar gut darin, Daten zu verarbeiten. Aber solange sie die Welt nicht wahrnehmen und interpretieren können, sind ihre Fähigkeiten begrenzt. Die Forschungsgruppe Kognitive Systeme der Fakultät für Informatik an der Hochschule Reutlingen arbeitet daran, Systeme zu trainieren.

Autonom fahrende Autos, die Fußgänger auch dann erkennen, wenn sie einen e-Scooter nutzen oder verkleidet sind. Mobile Roboter, die an unserem Arbeitsplatz selbstständig Lagerbestände auffüllen und uns auf Zuruf benötigte Gegenstände bringen. Maschinelle Systeme, die während einer Operation am Gehirn Verformungen erkennen, die der Arzt nicht sehen kann. Uns Menschen steht eine Zukunft bevor, in der Maschinen noch viel mehr können.

Zweifellos werden sie unser Leben verändern und vieles verbessern, weil sie schneller und präziser sind. Doch hierfür müssen Maschinen in der Wahrnehmung der Welt viel besser werden. Maschinen müssen in der Lage sein, sensorische Daten angemessen zu verarbeiten und zu interpretieren. „In unserer Forschungsgruppe Kognitive Systeme“, erklärt Prof. Curio, „stellen wir uns dieser Aufgabe. Wir sind ein interdisziplinärer Verbund von Wissenschaftlern aus der Kybernetik, den Neurowissenschaften, der Informatik, die sich gemeinsam der Frage widmen, wie man in ausgewählten Bereichen menschliches Denken, Entscheiden und Verhalten auf maschinelle Systeme übertragen kann.“ Fragen, mit denen sich Cristóbal Curio schon lange beschäftigt. Er studierte an der Uni Bochum Elektro- und Informationstechnik, entdeckte die Leidenschaft für die Neuroinformatik und ging danach ans Max-Planck-Institut für Kybernetik, in Tübingen hat er auch habilitiert.

Königsdisziplin autonomes Fahren

Autonom fahrende Autos sind dabei nur eines vieler Forschungsfelder, zugleich aber die „Königsdisziplin“. Der digitale Wandel in der Automobilindustrie mit autonomen Fahrzeugen ist eine Herkulesaufgabe, bei der viele Forschungsinstitute, Hersteller und Technologie-Anbieter kooperieren. Das derzeit ehrgeizigste Projekt seiner Forschungsgruppe ist Teil der Leitinitiative Autonomes und Vernetztes Fahren des Branchenverbands VDA. Mehr als 80 Partner mit 700 Personen und einem Budget von mehr als 120 Millionen Euro arbeiten gemeinsam an der Zukunft des autonomen Fahrens. Die Reutlingen University ist mit dabei und forscht an einem von vier zentralen Bausteinen namens KI Delta Learning. Das vom Bund geförderte Labor, für dessen Aufbau Professor Curio 2018 mit dem Forschungspreis der Hochschule ausgezeichnet wurde, war ausschlaggebend dafür, dass die Forschungsgruppe an der Zukunft der Automobilindustrie mitwirkt. Mehr dazu: https://www.ki-deltalearning.de/news/news-detail/spot-an-fuer-ki-delta-learning

Unter Delta Learning versteht man die Übertragung von gelerntem Wissen auf neue Situationen. Verkehr ist ein Geschehen mit hoher Dynamik, das sich ständig verändert. Curio: „Mit unserem Motion-Capture-Labor können wir mit 3D-gescannten Körpern kritische Verkehrssituationen simulieren.“ Darunter auch ungewöhnliche und extreme Situationen: Was, wenn der Fußgänger nachts unterwegs ist, ein Karnevalskostüm trägt oder die Straße mit Schnee bedeckt ist? „Wir erheben im Labor Daten, ohne dass ein Auto dafür auch nur einen Meter fahren muss.“ Wie sich das einmal gelernte Wissen dann auch auf andere Städte und Länder übertragen lässt, gehört ebenfalls zu den Forschungszielen.

KI – anwendungs- und praxisnah

Der interdisziplinäre Forschungsansatz kommt aber bei vielen weiteren Anwendungsfeldern zum Tragen. So etwa im Forschungszentrum für angewandte Künstliche Intelligenz (KI-X), wo die Wissenschaftler früher schon für Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit einen intelligenten Gürtel entwickelt haben. Durch Vibration weist dieser in geschlossenen Räumen den Weg. Weitere Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind Lösungen für computergestützte Operationen, etwa die digitale Übertragung von Patientendaten oder der automatisierte, analoge Schaltungsentwurf in der Mikroelektronik. Auch im Bereich Life Science ist sein Institut tätig; sie arbeiten an der Laborautomatisierung und wollen damit das Wanderverhalten von Krebszellen ermöglichen. Im Rahmen der Lehr- und Forschungsfabrik Werk150 an der ESB Business School der Hochschule Reutlingen und dem deutsch-niederländischen Field Lab entstehen Anwendungen für die Industrie 4.0. Dabei geht es um Themen wie der digitale Zwilling oder Mensch-Roboter-Kollaboration, die vor allem für kleine und mittelgroße Unternehmen auf der Agenda für eine zukunftsorientierte Produktion stehen.

Weil die Universität eine überschaubare Größe hat, schließt sie schnell unkomplizierte Kooperationen mit Unternehmen und ist ein geeigneter Partner für Transferprojekte. Reutlingen ist ein Industrie- und ein Wissensstandort mit Zukunft. Die Reutlingen University ist ein von Unternehmen wie Politik und in der Wissenschaftsgemeinde hochgeschätzter Partner bei praxisnahen Forschungsthemen. Prof. Curio: „Unsere Kompetenzen und Expertise werden wir aktiv in den Industriepark RTunlimited einbringen. Wir freuen uns auf experimentierfreudige Zeiten.“

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